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Seminar für Griechische und Lateinische Philologie

I. Einleitendes

Gegenstand, Begriff, zeitliche Begrenzung

Auf den folgenden Seiten soll eine – notgedrungen viel zu summarische – Skizze des Lateins im Mittelalter geboten werden. Man hat sich daran gewöhnt, davon als von "Mittellatein" zu sprechen. Wenn dies im folgenden vermieden wird, so soll damit angedeutet werden, daß im Mittelalter neben- und nacheinander eine ganze Skala unterschiedlicher Äußerungsformen des Lateinischen in Gebrauch waren, und diese können vom Sprachlichen her nicht ohne weiteres unter einen einheitlichen Begriff zusammengezwungen werden. Freilich gibt es gewisse Erscheinungen, die für mehr oder weniger typisch mittelalterlich gelten dürfen, aber es soll doch vorschnellen Vereinfachungen möglichst vorgebeugt werden.

Nach der gängigen Einteilung schließt das mittelalterliche Latein an das Spätlatein an und wird in der Renaissance vom Neulatein abgelöst. Wenn nun also für unmöglich angesehen wird, von einer inneren Identität der Sprache aus zu bestimmen, was zu diesem in der Mitte zwischen beiden liegenden Latein gehört, liefert man sich den Diskussionen der Historiker über die entsprechenden Epochengrenzen aus. Nun ist ja die Auflösung des Römischen Reiches und die Neugestaltung Europas im Zuge der Völkerwanderung ein prozeßartiges Geschehen. Jahrzahlen, die man hier allenfalls nennen könnte, haben höchstens symbolischen Charakter. Ähnlich hat die säkulare Bewegung der Renaissance mehrere Generationen gebraucht, um sich zu entwickeln und auszubreiten. Und gerade was die Sprache betrifft, ist noch im 15. und 16. Jahrhundert manchenorts ein durchaus mittelalterlich geprägtes Latein weiter in Geltung geblieben. Ganz roh gesprochen, geht es im folgenden um die Beobachtung der Latinität etwa in dem Jahrtausend zwischen 500 und 1500. Dabei machen die runden Zahlen schon an sich deutlich, was mit dieser Begrenzung gemeint ist und was nicht.

Zur inneren Gliederung

Was die sprachlichen Entwicklungen im Übergang von der Spätantike zum frühen Mittelalter betrifft, so unterscheiden sich die verschiedenen Regionen Europas stark untereinander, einesteils nach der Qualität der Änderungen, die sich im Gebrauchslatein ergaben, andernteils nach der Zeit und Geschwindigkeit, mit welcher sie sich einstellten. Diese Unterschiede liegen nicht etwa nur an den Sprachen der Volksstämme, die sich in den alten Reichsgebieten ansiedelten, sondern mindestens so sehr an der Art, in welcher das Latein in der betreffenden Provinz verwurzelt war, und an dem Maße, in welchem spätantike Schul- und Bildungstraditionen fortlebten. Es besteht ein gewisses Korrelat zwischen dem Grade, in welchem das hergebrachte Schriftlatein von der volksläufigen Umgangssprache her geformt war, und dem Zeitpunkt, in welchem die betreffende Volkssprache als etwas für sich Bestehendes erfaßt wurde und in der Folge dann auch Schriftfähigkeit erlangte. Am raschesten ging diese Entwicklung in der Galloromania, dem nachmaligen Frankreich, voran, vor allem in der nördlichen Hälfte. Bedeutend langsamer verlief sie in Italien und auf der Iberischen Halbinsel. Völlig anders wiederum liegen die Verhältnisse auf den Britischen Inseln.

Von jener Gegend, in welcher die Veränderungen am deutlichsten waren, genauer: vom Nordosten und der Mitte Frankreichs aus, ist denn auch die Erneuerung der Sprache ausgegangen, welche dem größeren Ganzen der karolingischen Bildungsreform angehört. Überall dort, wo die dadurch angebahnte Handhabung des Lateinischen sich in der Folge Geltung verschaffte, bildete sich allmählich eine verhältnismäßig einheitliche Schriftsprache heraus, die auf den Grundlagen des spätantiken Lateins - nicht des klassischen im engeren Sinne - ruht, einer Sprache, die allerdings einer gewissen Anzahl mittelalterlichen Eigenheiten Raum ließ, und die sich im Sinne fortwährender Normenentfaltung weiterentwickelte. Diese überregionale Standardsprache ließ freilich mancherlei sprachliche Register zu, die sich unter anderm nach den Textsorten, nach dem Bildungsstand und den Stilidealen der Verfasser unterscheiden. Vermehrt im Hochmittelalter war es einzelnen wortmächtigen Schriftstellern gegeben, von den sprachlichen Mitteln des Lateinischen in einer unerhört differenzierten, wirksamen und persönlichen Weise Gebrauch zu machen.

Innerhalb dieses breiten Spektrums bildete sich im reiferen Hochmittelalter eine bestimmte Sprachform heraus, die zumindest für manche geistigen Bereiche und gewisse Textsorten bestimmend wurde und blieb: die Latinität der Scholastik, eine Fach- und Disputationssprache eigenen Gepräges, stark gekennzeichnet durch eine Menge neuer, zum Teil ungewohnter und schwerfälliger Wortbildungen, andererseits durch Einengung auf eine beschränkte Zahl von Ausdrucksformen im syntaktisch-phraseologischen Bereich. Diese Sprache war auf Eindeutigkeit der sprachlich-logischen Bezüge gerichtet und kam den Bedürfnissen mündlicher Verwendung in Unterricht und Diskussion entgegen. Nicht, daß diese Sprachform die Latinität des Spätmittelalters völlig zu beherrschen vermocht hätte, doch rechtfertigt ihr Aufkommen, daß - irgendwo zwischen der Mitte des 12. und dem Beginn des 13. Jahrhunderts - eine Epochengrenze angesetzt wird.

Kontinuität oder Diskontinuität?

Dem, der einen hochmittelalterlichen Text gehobener Qualität mit einem gepflegten Text der römischen Kaiserzeit vergleicht, werden unter Umständen fürs erste keine allzu erheblichen Unterschiede in die Augen fallen. Er gleicht dem, der in einer weiten Ebene steht, die von einem Fluß durchzogen wird, dessen tief eingeschnittenes Bett sich jedoch hinter der Vegetation verbirgt, welche sich am jenseitigen Ufer fortsetzt, als ob kein Fluß dazwischenläge. In diesem Sinne hat man denn wohl auch sagen können, das mittelalterliche Latein sei die organische Fortsetzung des spätantiken. Dabei wird vom systematisch-phänomenologischen Aspekt ausgegangen: Manche Einzelzüge der Sprachpraxis scheinen ganz einfach stehengeblieben zu sein. Wer demgegenüber von einem bildungsgeschichtlich-sprachsoziologischen Blickwinkel her urteilt, wird den Verlust und die spätere Wiedergewinnung dieser sprachlichen Mittel betonen. Er wird die Diskontinuität schärfer ins Auge fassen und etwa auch darauf achten, daß ein bestimmter Sprachzug in Antike und Mittelalter unterschiedlichen Stellenwert hatte. Das Kontinuum eines literarischen Geschmackes und Urteilsvermögens einer gebildeten Öffentlichkeit war abhanden gekommen. Neu gab es eine kastenartige Trägerschicht des Lateinischen (zunächst ganz vorwiegend aus Geistlichen bestehend), die man eher gelehrt als gebildet nennen kann. Was beispielsweise in der klassischen oder spätantiken Zeit als Archaismus ein besonderes Kolorit besaß, war nun einfach eine seltene Varietät zu einem gebräuchlichen Ausdruck, auf den man allenfalls im Sinne einer gelehrten Besonderheit zurückgriff.

Zwei auf die Antike zurückgehende Komponenten sind es, die zusätzlich zum pagan-kaiserzeitlichen Schriftlatein sich – in wechselndem Ausmaße – im mittelalterlichen Latein wirksam zeigen und daher hier kurz besprochen werden sollen: die Sprache der Christen und das sogenannte Vulgärlatein.

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