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Seminar für Griechische und Lateinische Philologie

IX. Zu dem Fragenkreis der Interferenz mit andern Sprachen

Grundsätzliches

Unter Interferenz sei hier die Gesamtheit der Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Sprachen verstanden, welche auf dem Kontakt verschiedener ethnischer Gruppen und ihrer Kulturen beruhen. In bezug auf das lateinische Mittelalter sind die Verhältnisse in gewisser Hinsicht komplizierter als sonst: Teilweise stammt das fremde Sprachgut aus Kulturen, mit denen die Träger der mittelalterlichen Latinität vorwiegend durch das Medium schriftlicher, in Texten niedergelegter Sprache kommunizierten. Dies gilt weithin für die Einflüsse des Griechischen, des Hebräischen und des Arabischen. Doch auch was die damals gesprochenen europäischen Volkssprachen betrifft, bilden die Verhältnisse hier einen Sonderfall: Es geht ja nicht um das Aufeinandertreffen zweier räumlich getrennter Sprachvölker, sondern um die Berührungen der beiden Sprachen, zwischen denen bei den einzelnen Sprachsubjekten ein Diglossieverhältnis bestand, das sich im Verlaufe des Mittelalters allerdings in Richtung auf Bilinguismus hin verschob.

Die bisweilen wahrgenommene Unterscheidung zwischen Interferenz und Integration läßt sich hier nur unvollkommen durchführen, da sich oft nicht zuverlässig feststellen läßt, wie weit ein Lehnwort noch als Fremdkörper empfunden wurde. Ohne weiteres für integriert gelten dürfen zahlreiche Bezeichnungen griechischen Ursprungs für kirchliche Realien, ferner eine ganze Anzahl fränkisch-lateinischer Rechts- und Sozialbegriffe (etwa bannus oder alodis / allodium). Die formale Anpassung an und für sich sagt hierüber noch nicht viel aus: Es bestand weitestgehend ein Systemzwang, wonach ein innerhalb des Lateinischen gebrauchtes Wort auch lateinisch flektiert werden müsse.

Nach dem jeweiligen geschichtlichen Umfeld des Interferenzvorganges können im Wesentlichen drei Typen unterschieden werden: 1) derjenige im Bereich von Bibel, Glaubenslehre und Kirchenverfassung, 2) derjenige der Übersetzung gelehrter Literatur (aus dem Griechischen und dem Arabischen), schließlich 3) derjenige des Zusammentreffens der lateinischen Schriftsprache mit den Äußerungen der sozialen Welt des Mittelalters in den verschiedenen europäischen Volkssprachen.

Für das Griechische und das Arabische allgemein gilt, daß zwischen (mindestens) zwei grundlegenden Typen sprachlicher Beeinflussung zu scheiden ist: derjenigen, die über Texte läuft, und derjenigen, die auf Kulturkontakt beruht: Griechischerseits gibt es Lehnwörter ganz unterschiedlichen Habitualisierungsgrades, angefangen bei alteingesessenen Wörtern, von deren griechischer Herkunft kaum noch jemand wußte (etwa camera oder purpura) bis hin zu byzantinischen Termini technici (wie etwa die Schiffsbezeichnungen chelandium oder galea oder auch stolus 'Flotte'). Ebenso ist bei Arabica und weiteren Orientalia zu scheiden zwischen Lehngut, das durch die Übersetzung der naturwissenschaftlichen und philosophischen Literatur sich im Bereich des Lateinischen Zutritt verschafft hatte, und Wörtern, die - zusammen mit dem bezeichneten Ding selber - in den Bereich des Lateinischen und der europäischen Volkssprachen Eingang gefunden hatten.

Zu den Wechselwirkungen zwischen dem Latein und der jeweiligen Volkssprache

Weit vielgestaltiger sind die Wechselwirkungen zwischen dem Lateinischen und den einzelnen europäischen Volkssprachen, welche dazu ein lebendiges Substrat bildeten. Vor allem laufen die Beeinflussungen hier in ausgeprägterer Weise in beiden Richtungen. Nicht erörtert werden können hier die Wirkungen des Lateinischen auf Wortschatz und Bauformen der einzelnen Volkssprachen. Sie sind von ganz unterschiedlicher Art und sind insgesamt sehr beträchtlich. Gewiß ist diese Ausrichtung nach dem Lateinischen einer unter mehreren Faktoren, die dazu geführt haben, daß sich in der Syntax gewisse diesen Sprachen gemeinsame Züge herausgebildet haben. In spätmittelalterlichen Texten, die in einer 'unlateinisch'-volkstümlichen Diktion gehalten sind, ist die Richtung dieser Beeinflussung nicht immer leicht zu bestimmen.

Während im lexikalischen Bereich auch unterschiedlich geartete Sprachen aufeinander einwirken konnten, setzen Beeinflussungen im morphologischen und syntaktischen Bereich eine stärkere wechselseitige Durchdringung voraus. Im Gegensatz zu den Verhältnissen in Gallien oder Italien ist das Latein im frühmittelalterlichen England nicht nur korrekt, sondern auch ohne Lokalkolorit. In der Latinität Irlands hat die hoch entwickelte einheimische Sprache, vom Lautlichen abgesehen, nur wenig Spuren hinterlassen. Und in Ungarn, im Bereich einer nicht-indogermanischen Sprache, wurde ein im hergebrachten Sinne ausnehmend korrektes Latein verwendet.

Zur Kasuistik der lexikalischen Entlehnungen

Von den eigentlichen Lehnwörtern, bei denen der fremde Wortkörper übernommen worden ist, unterscheiden wir Lehnprägungen, und hierunter weiter zwischen Lehnbildungen und Lehnbedeutungen.

Lehnbildungen bestehen in der Nachschöpfung eines neuen Wortkörpers in der empfangenden Sprache. Allerdings wird oftmals, in Fällen gut eingeführter Bildungen, der fremdsprachliche Anstoß zu einer bloß noch geschichtlichen Tatsache. (Dies gilt etwa für salvator oder spiritualis, seinerzeitige Lehnbildungen nach bibelgriechischen Wörtern.) Andere Bildungstypen, namentlich gewisse Zusammensetzungen, tragen deutlich den Stempel außerlateinischer Anregung, etwa campipars nach altfranzösisch champart (für eine bestimmte Form der Bewirtschaftung des Bodens) oder abmatrimonium bzw. abmaritatio für altfranzösisch formariage 'Heirat nach auswärts'.

Wo ein fremdes Wort seinem Sinne nach völlig in den Wortkörper eines bestehenden Wortes eingelagert ist, sprechen wir von Lehnbedeutung. Sie beruht zumeist darauf, daß zwei Wörter unterschiedlicher Sprache sich in der Grundbedeutung entsprechen; demzufolge wird dem Wort der empfangenden Sprache eine speziellere Anwendung des andern mit aufgeladen, die bei diesem zunächst nicht möglich war. Hier eröffnet sich ein unendlich weites Feld, nämlich die Anwendung gut eingeführter Wörter für neue, noch nicht abgedeckte Ausdrucksbedürfnisse. So sind proximus im Sinne von 'jeweiliger Mitmensch' oder transgredi im Sinne von 'eine Übertretung begehen' Lehnbedeutungen aus dem Bibelgriechischen. radix im Sinne von 'Seite eines Quadrates' ist aus dem Arabischen übernommen. iuvenis wird manchmal als Adelstitel wie deutsch Junker gebraucht. Es ist jedoch festzuhalten, daß die Anreicherung hergebrachter Wörter mit neuer Sinnerfülltheit sich oftmals nicht mit der Äquivalenz einer einfachen lateinisch-neusprachlichen Übersetzungsgleichung beschreiben läßt, sondern heikle hermeneutische Probleme mit sich bringt.

Lateinisch-romanische Rückentlehnungen

Ein Sonderfall im Gebiet der Romania besteht darin, daß bei einem durchsichtigen Erbwortverhältnis eine Sonderbedeutung des volkssprachlichen Ergebnisses in das lateinische Ausgangswort hineinverlegt wird. Häufig wird ferner die Lautform einer auf lateinischem Material beruhenden volkssprachlichen Wortbildung, mehr oder weniger stark im Sinne der lateinischen Lautung überformt, in lateinischen Texten verwendet (Rückentlehnung). Hiervon zu sprechen, hat erst dort einen Sinn, wo Latein und Volkssprache klar voneinander geschieden werden können. Aus lautlichen Gründen eignen sich zur Betrachtung Beispiele aus dem französischen oder anglonormannischen Bereich am besten. Zu unterscheiden sind Rückentlehnungen, bei denen der Wortkörper nur ganz oberflächlich, der Endung nach überformt ist, und solche, die insgesamt der lateinischen Ausgangssprache angepaßt worden sind.

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