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Wie eingangs hervorgehoben, gibt es keinen bestimmten Sprachzustand, den man als mittelalterliches Latein (oder 'Mittellatein') schlechthin bezeichnen könnte. Auf fast allen Gebieten, besonders in der Morphologie und in der Syntax, erweist es sich bei näherem Hinsehen oftmals, daß der Einzelzug, den man gerade verfolgt, sich schon in der antiken Latinität - in der Spätantike oder gar bereits im Altlatein - fassen läßt. In manchen Fällen war die Dokumentation solcher Sprachzüge früher ungenügend; sie ist es zum Teil heute noch. Auch haben uns die durch die Schulgrammatiken geprägten normativen Vorstellungen von der antiken Latinität den Blick auf die vielen Unregelmäßigkeiten, welche eben mit ins Bild gehören, beeinträchtigt.
Daß nun im merowingischen Frühmittelalter - und in der Urkundensprache Italiens und der Iberischen Halbinsel darüber hinaus - manche Einzelheiten, vor allem solche lautlicher und morphologischer Art, vorkommen, welche sich in keine noch so großzügig gehandhabte Norm einordnen lassen, versteht sich und interessiert hier weiter nicht. Die Frage ist nun vielmehr, wie weit sich im gepflegteren karolingisch-nachkarolingischen Latein auf Dauer Züge durchsetzen konnten, die sein Bild prägen und von der antiken Latinität insgesamt kräftig abheben. Es gibt eine Menge alternativer Normen: Erscheinungen, welche sich so weitgehend festgesetzt haben, daß sie für richtig gelten dürfen, weil sie auch bei Schriftstellern mit guten Sprachkenntnissen und gehobenen stilistischen Ansprüchen vorkommen. Doch dürfte es keinen einzigen Fall geben, in dem ein mittelalterlicher Sprachgebrauch den klassischen restlos verdrängt hätte.
Solche neu zu allgemeiner Geltung gelangten Sprachzüge darzustellen, würde jedoch eine eingehende Beschäftigung mit dem Belegmaterial erfordern; dies ist, zumal an dieser Stelle, nicht möglich. Wenn hier dennoch ein paar Beispiele genannt werden, so nur als Notbehelf, zur Vermittlung eines ganz allgemeinen Eindruckes.
Im Rahmen der karolingischen Bildungsreform hat man versucht, den antiken Lautstand wieder zu erreichen, und hat damit leidlich Erfolg gehabt. In Frage stand dabei mehr die Schreibung als die Aussprache, diese letztere dürfte je nach Region und jeweiligem Bildungsgrad im Mittelalter recht unterschiedlich gewesen sein. Keinen dauerhaften Erfolg hatte der Versuch, die Schreibung von ae und e zu regeln: Hier blieb auf die Dauer e herrschend; zunächst wurde ae oft noch durch ein diakritisches Zeichen, die Cauda der sogenannten e caudata angedeutet. Ebenfalls nicht regeln ließ sich die Unterscheidung von ti und ci vor einem andern Vokal: servicium, moncium, andererseits offitium u. ä. Die Wörter condicio und conditio konnten nicht mehr auseinandergehalten werden. In vielen Bereichen wurde eine regelwidrige Schreibung im großen und ganzen rückgängig gemacht, blieb jedoch an gewissen Wörtern haften, oftmals infolge Sogwirkung durch einen analogen Fall. Man wußte zwar Tenues und Mediae zu trennen, doch gibt es wohl Zehntausende von Belegen für aput und capud (gegenseitige Beeinflussung), für reli(n)quid und inquid (vgl. die Pronominalform quid). Der zu Zeiten verbreitete Wechsel zwischen o und u wurde zwar zurückgebunden, doch schrieb man im ganzen Mittelalter überaus häufig soboles für suboles. ch und h wurden normalerweise auseinandergehalten, doch schrieb man meist michi und nichil, dies vielleicht zur Erhaltung der Zweisilbigkeit dieser Wörter.
Unter dem Einfluß der Vereinfachungen im Romanischen treten auch aus lateinischen Texten ungepflegter Sprachform die Flexionsparadigmata in schwer zerrütteter Form zutage. So werden zahlreiche Substantive der 4. Deklination nach der zweiten flektiert; innerhalb der einzelnen Paradigmen wurden die Kasusformen vertauscht, usf. Hierin konnten jedoch die antiken Normen verhältnismäßig erfolgreich wiederhergestellt werden. Gewisse Eigenheiten bleiben jedoch im ganzen Mittelalter häufig, so das Schwanken zwischen -e und -i im Dativ / Ablativ Singular der 3. Deklination. Bei Komparativformen wurde die Ablativform auf -i die Regel: a priori, a fortiori. Was die Konjugation der Verben betrifft, so kamen auch hier manche Vertauschungen zwischen den einzelnen Paradigmen vor. Durchaus gebräuchlich selbst in gepflegten Texten sind Perfektformen auf -didi zu Verben der 3. Konjugation auf -ndere , etwa: defendidit, prendidit. Verbreitet sind ferner Formen des futurischen Partizips nach dem Praesensstamm, etwa legiturus, profisciturus statt lecturus, profecturus.
In der Syntax ist das Bild dadurch bestimmt, daß eine große Anzahl spätantiker möglicher Alternativen nun viel stärker verbreitet war als die klassisch zugelassenen Ausdrucksformen: Viele Züge, die nun hervortreten, sind nicht Ergebnis einer Krise, sondern könnten auch als normale Fortentwicklung der Sprache aufgefaßt werden, wenn man über den zeitweiligen Zusammenbruch der Sprachkompetenz im Frühmittelalter hinwegsähe. Der Accusativus cum infinitivo ist im Mittelalter millionenfach vertreten, doch ist die Anwendung indirekter Aussagesätze mit quod oder quia (entsprechend che) allgemein üblich. Die feineren Regeln des Gebrauchs der Tempora waren weithin in Vergessenheit geraten. Der Indikativ des Plusquamperfekts kommt oft als einfaches Erzähltempus vor. Formen des Konjunktivs dieses Tempus treten vielfach an die Stelle derjenigen des Imperfekts, so etwa in Finalsätzen mit ut. Die Unterscheidung von reflexivem und nicht-reflexivem Gebrauch der Pronomina war nicht mehr lebendig: Häufig trat sibi an die Stelle von eis, andererseits traten eius, illius bzw. illorum an diejenige von suus. Zahlreiche Verben werden nunmehr neu (auch) mit dem Akkusativ konstruiert (Transitivierung), zahlreiche transitive werden jetzt (auch) absolut gebraucht. Die Tendenz zur Verwendung der Deponentien in aktiven Formen verstärkt sich, doch umgekehrt werden manche Verben gelegentlich neu als Deponentien behandelt. Gerade Erscheinungen wie die letztere machen deutlich, daß das mittelalterliche Latein nicht immer mit den volkssprachlichen Entwicklungen mitgeht, sondern daß auch Wirkkräfte 'gelehrten' Ursprungs am Werke sind.
Die
in der klassischen Zeit empfundenen Hemmungen, neue Wörter zu bilden,
waren längst entfallen. Man prägte solche, wo und wann immer es einem
nützlich schien oder beliebte, so beim Übersetzen griechischer
philosophischer und naturwissenschaftlicher Texte, oder wenn es galt,
Bezeichnungen für neu ins Leben gerufene Begriffe zu finden, z. B. für
die im Hoch- und Spätmittelalter sich stark differenzierenden Handwerke
bzw. Handwerker. Auch spielerische Augenblicksbildungen komme in großer
Zahl vor. Ganz überwiegend folgte man dabei den hergebrachten
Ableitungs- und Kompositionsschemata, so daß der Sinn vieler
Wortneubildungen vielfach ohne weiteres feststand. Allerdings wurden
manche Ableitungsmorpheme auch in ungewohnter Art verwendet, etwa das
Suffix -tas von Substantiven ausgehend, etwa succitas 'Safthaltigkeit', oder das Suffix -osus zur Ableitung von einem Adjektiv, etwa malignosus 'übelwollend'. Recht stark ist der Anteil an Wörtern, deren einer Bestandteil griechischen Ursprungs ist, so Ableitungen auf -ista, oder -izare, Zusammensetzungen mit archi-, pseudo- oder -polis, -logus. Auch 'in vitro-Züchtungen' von Wörtern aus rein griechischem Material sind im mittelalterlichen Latein verbreitet, etwa archidiabolus oder antipapa 'Gegenpapst'.