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Das lateinische Schrifttum des Mittelalters erwies sich in etlichen Bereichen als kräftig und langlebig. Die literarischen Texte wurden in der Neuzeit vor allem dann weitergelesen und weiter verwendet, wenn sie einen Sitz im Leben hatten. Beispiele dafür sind etwa die Hymnen, die Liturgie, die auch literarisch Texte von höchstem Rang darstellen, studentische Lieder sowie Satiren gegen die römische Kurie und gegen kirchliche Missstände, die durch die Reformation neue Aktualität gewannen. Die Fachliteratur behielt vielfach ihre Autorität und fand in manchen Bereichen eine inhaltliche Fortsetzung: Man denke nur an die scholastische Philosophie, die mit der Spätscholastik weit in die Neuzeit hineinreichte, oder an die alchemistischen Schriften, die weiterhin gesucht und genau gelesen wurden. Es versteht sich von selbst, dass diese noch aktuellen, in der Praxis verankerten Werke vorerst nicht zum Gegenstand einer Philologie wurden.
Doch begann sich in der Frühen Neuzeit auch ein historisches und antiquarisches Interesse für die lateinischen Werke des Mittelalters zu regen, und zwar in drei Bereichen: die Historiker beschäftigten sich mit der reichen und reichhaltigen mittelalterlichen Historiographie; einige mittelalterliche Werke wurden als hohe Literatur gelesen und geschätzt, gar kommentiert (Hrotsvits Werke oder der Ligurinus); die gelehrte Beschäftigung mit Handschriften brachte schließlich eine bunte Auswahl an Texten zum Vorschein, die unter Titeln wie Anecdota publiziert wurden.
Die Vorgeschichte unseres Faches setzt aber eigentlich im frühen 19. Jh. ein und in ihr spielen alle drei Bereiche eine Rolle. Gelehrte Bibliothekare wie Schmeller oder Hauréau publizierten Texte, die sie in Handschriften entdeckten, so Schmeller eine bedeutende Sammlung wie die Carmina Burana. Ein wichtiger Impuls kam von der Geschichtswissenschaft: 1819 wurde in Berlin die „Gesellschaft für ältere deutsche Geschichtskunde“ gegründet, deren Ziel es war, die mittelalterlichen Geschichtsquellen in den Monumenta Germaniae Historica nach wissenschaftlichen Kriterien kritisch zu edieren. Der Begriff „Geschichtsquelle“ wurde dabei sehr weit gefasst. Der dritte Bereich seinerseits, die literarischen Werke, fand die Aufmerksamkeit der Philologen, die sich nun der Literatur in den nationalen Sprachen annahmen. Auf der Suche nach deren Anfängen stieß man überall in den westlichen Ländern Europas auf lateinische Zeugnisse und begann, sich mit ihnen zu beschäftigen. In Deutschland findet sich diese Verbindung der Neuphilologie zur lateinischen Literatur des Mittelalters besonders im Werk Jacob Grimms. Als Grimm über die Geschichten von Reinhart dem Fuchs forschte, stieß er auf eines der großen Epen des Mittelalters, das Tierepos Ysengrimmus; als er sich mit der Literatur um Friedrich Barbarossa beschäftigte, entdeckte er die Gedichte des Archipoeta. Ysengrimmus und Archipoeta: Beide stehen für die Innovationskraft und die hohe Qualität der lateinischen Literatur im Mittelalter.
In derselben Zeit, als die Monumenta Germaniae Historica gegründet wurden und die Germanistik entstand, formierte sich auch die Klassische Philologie institutionell als Fach. Unter dem Einfuss des Neuhumanismus wandelte sich das Studium des Lateins als eines notwendigen Arbeitsinstrumentes für den Gelehrten in eine Wissenschaft, welche die griechisch-römische Kultur und Literatur der Antike umfassend studierte und sie als wissenschaftlichen Gegenstand eigenen Ranges entdeckte. Allerdings konzentrierte sich der Neuhumanismus auf die heidnische Antike in einem Ausmaß, der dem Renaissance-Humanismus fremd gewesen war. Manfred Fuhrmann beobachtete die Folgen dieser Fixierung, nämlich (ich zitiere): „ . die Abfolge der Schreibweisen, die sich hieraus ergab, brachte ein dreistufiges Schema hervor: ‚Einstige Größe - Verfall - Wiederherstellung der einstigen Größe‘ ( .) Es half die erst seit dem 18. Jahrhundert landauf, landab geläufige Auffassung zu begründen, dass sich die europäische Geschichte in die Phasen Antike - Mittelalter - Neuzeit gliedere.“
Die erste Hälfe des 19. Jahrhunderts, die für unsere beiden Fächer allgemein so wichtig war, war für die Wissenschaft in Zürich nicht minder bedeutend, denn 1833 wurde die Universität begründet. Wesentlich mitbeteiligt war der Schulreformer und Theologe Johann Caspar von Orelli, der als Professor der Philologie lateinische wie griechische Klassiker las. An seine Forschungen über Cicero, Tacitus, Horaz, oder Plato muss ich hier nicht erinnern. Aber wir alle wissen, dass ein Hochschullehrer sich nur zum Teil in seinen Publikationen äußert; genauso wichtig ist die Lehre. Ein Blick in die Vorlesungsverzeichnisse der Universität Zürich zeigt, dass eine ausschließliche Fixierung auf die klassische Zeit Johann Caspar von Orelli fremd war. Er las über spätantike Autoren wie Apuleius oder Claudian, auch über christliche wie Augustin oder Laktanz. Gleich im ersten Semester in der Geschichte unserer Universität, dem Sommersemester 1833, bot er folgende Veranstaltung an: v. Raumer’s Handbuch merkwürdiger Stellen aus den Lat. Geschichtsschreibern des Mittelalters, Breslau 1813, mit Rücksicht auf die Latinität des Mittelalters. Das Handbuch des preußischen Autors Friedrich von Raumer ist eine beeindruckende Auswahl von Texten aus 101 mittelalterlichen Werken, die zwischen 500 und 1300 entstanden sind. Von Raumer weist in seinem Vorwort auf die besonderen Bedingungen der Sprache hin. Ich zitiere: „Das Latein des Mittelalters muss für sich, ohne weitere Beziehung, betrachtet und gewürdigt werden: es ist eine eigenthümliche Sprache, die sehr viele Worte und Wendungen hat und haben muss, von denen das alte Rom nichts wusste“. Das bedeute aber nicht, so von Raumer, alles gut zu heißen, denn auch im Mittelalter habe es gewandte und unbeholfene Erzähler, gute und schlechte Stilisten gegeben. Für ihre Beurteilung müssen aber geeignete Maßstäbe gefunden werden. Wir wissen natürlich nicht, wie Johann Caspar von Orelli seinen Unterricht gestaltete, der Vermerk „mit Rücksicht auf die Latinität des Mittelalters“ lässt aber ein Gespür dafür erkennen, dass das lateinische Schrifttum sich im Mittelalter in keiner Verfallstufe befand, sondern seine eigene Latinität, also sein eigenes Maßstab für Korrektheit hatte. Es war übrigens nicht die letzte Veranstaltung, die er in diesem Bereich anbot. Sieben Jahre später, im Wintersemester 1840 findet sich im Vorlesungsverzeichnis der Eintrag: Abälards und Heloisens Briefe, als Uebung in der Latinität des Mittelalters.
Der Unterricht von Orellis ist ein Indiz dafür, dass an der Universität Zürich sehr früh ein Interesse für die lateinischen Texte des Mittelalters vorhanden war. Hier und da finden sich in den nächsten Jahren Veranstaltungen, die lateinische Autoren und Werke aus dem Mittelalter als Gegenstand hatten, und auch Zürcher Professoren beteiligten sich an der Edition lateinischer Texte des Mittelalters, hier sind zum Beispiel der Historiker Gerold Meyer von Knonau und der Romanist Jakob Ulrich zu nennen.
Im Lauf des 19. Jahrhunderts verdichtete sich die Erkenntnis, dass eine Philologie Not tut, die in der Lage ist, die reiche und vielfältige Sprache dieser mittelalterlichen Quellen, die für verschiedene Fächer wichtig sind, zu analysieren und zu beschreiben. Eine Philologie, die die anspruchsvolle lateinische Literatur des Mittelalters in ihrer Eigenart und Originalität bewerten kann, die ferner in der Lage ist, nicht nur Texte in Handschriften zu entziffern, sondern Handschriften an sich als Zeugen der Kultur ihrer Zeit zu interpretieren. Der erste Lehrstuhl für das neue Fach Lateinische Philologie des Mittelalters wurde 1904 in München für Ludwig Traube eingerichtet. Bereits 4 Jahre später verlieh die Philosophische Fakultät der Universität Zürich erstmals eine Venia legendi in diesem Fach an Jakob Werner, der als Privatdozent sein Vertreter in Zürich wurde. Jakob Werner hatte Klassische Philologie und Geschichte studiert und war als Lehrer tätig gewesen, bevor er Bibliothekar an der Kantonsbibliothek in Zürich wurde. Seine „Brotarbeit“ nahm ihn allerdings so sehr in Anspruch, dass er bereits 1912 seine Venia aufgab. Wir finden in den Publikationen Jakob Werners die Arbeitsweise der gelehrten Bibliothekare, die immer wieder auf kuriose oder interessante Texte stießen und diese edierten. Eine Vielfalt von Texten zog seine Aufmerksamkeit an: Proverbien, Sequenzen, Kurzerzählungen. Seine Editionen zeigen große Genauigkeit und kritischen Geist. Seine Dissertation, die der gründlichen Beschreibung und Analyse zweier Zürcher Handschriften gewidmet ist, einem Florilegium des frühen 13. und einer Miszellanhandschrif des 15. Jahrhunderts, wirkt besonders aktuell, denn immer mehr beschäftigt sich die Mediävistik mit solchen Handschriften als Sammlungen, die unter einheitlichen Gesichtspunkten angelegt wurden, und die es als solche zu interpretieren gilt.
Obwohl Jakob Werner nur kurze Zeit Privatdozent war, sollte er zur Gründung unseres Seminars beitragen. Seine wissenschaftliche Bibliothek, die eine beeindruckende Sammlung der frühen Forschungen zur lateinischen Sprache und Literatur im Mittelalter enthielt, wurde nämlich in den fünfziger Jahren von seinem Sohn zu sehr günstigen Bedingungen an den Kanton verkauf. Mit ihrem Bestand wurde eine Forschungsbibliothek gegründet, die heute noch den Kern unserer Seminarbibliothek bildet.
Ein glücklicher Umstand gesellte sich zur Gründung der Bibliothek, nämlich, dass im Jahr 1957 einem jungen Gelehrten namens Hans Haefele die Venia legendi „für das Gebiet der mittelalterlichen Geschichte unter besonderer Berücksichtigung der mittellateinischen Literatur“ erteilt wurde. Somit war nach vielen Jahren ein Privatdozent in Zürich, der unser Fach vertreten konnte. 1963, vor fünfzig Jahren, erfolgte die Gründung des Mittellateinischen Seminars. Auf den Lehrstuhl wurde Hans Haefele berufen, der auch einen Ruf nach Berlin bekommen hatte, aber sich glücklicherweise für Zürich entschied.
Hans Haefele hatte über die Geschichte, und vor allem durch seine Mitarbeit an den Monumenta Germaniae Historica den Weg zur Lateinischen Philologie des Mittelalters gefunden. Den Zürchern hat er unser Fach im wahrsten Sinne des Wortes nahe gebracht. Denn im Zentrum seiner Forschung standen Autoren, die im Gebiet der heutigen Schweiz und unweit von Zürich gewirkt haben, nämlich die St. Galler Mönche Ekkehard IV. und Notker der Stammler. Beide Autoren sind allerdings nicht nur vom lokalen Interesse, auch nicht nur vom historischen. Notkers Gesta Karoli nehmen eine wichtige Stellung in der Entwicklung Karls des Großen als literarischer Figur in den Literaturen Europas, Ekkehards Casus sancti Galli bieten einen einmaligen Blick in das Alltagsleben eines mittelalterlichen Klosters. Haefele hat mit einer Reihe von Einzeluntersuchungen, aber vor allem als genauer und eleganter Übersetzer, uns diese Texte und ihre Welt näher gebracht.
Auf Hans Haefele folgte Peter Stotz, auch er Historiker und Philologe. Peter Stotz hat sich um die Vermittlung lateinischer Texte gekümmert, die für die Zürcher wichtig sind: das Werk des Zwingli-Nachfolgers Heinrich Bullinger und neuerdings um einen Traktat über den Kometen von 1472, den ein Zürcher Arzt verfasst hatte. Vor zehn Jahren, zur Feier des vierzigjährigen Bestehens unseres Seminars, hat er gemeinsam mit seinen Studierenden eine Auswahl von alten und neuen lateinischen Texten aus oder über Zürich herausgegeben. Peter Stotz hat eine Fülle von Themen aus der Literatur-und Geistesgeschichte des Mittelalters behandelt, von den Gesprächsbüchlein bis zur geistlichen Dichtung, von der Metrik bis zur Erzählliteratur, aber sein Name ist ganz besonders mit einem Jahrhundertwerk verbunden, mit dem Handbuch zur lateinischen Sprache des Mittelalters, in dem die mittelalterliche Latinität zum ersten Mal in ihren verschiedenen Registern und in ihrer Normenvielfalt beschrieben wird.
In der Arbeit der Zürcher Mittellateiner lassen sich die Betätigungsfelder unseres Faches gut beobachten. Der Kern unserer Tätigkeit liegt in der gründlichen Auseinandersetzung mit einer Sprache, die es uns in ihrer Vitalität nicht einfach macht, und in der genauen Kenntnis der Arbeitsmethoden, die uns den Zugang zu den mittelalterlichen Zeugen gewähren. Wichtig bleibt, dass wir auf die Fragen und Bedürfnisse anderer Fächer und auf die der Öffentlichkeit reagieren. Die Interessen der Forschung und der Gesellschaft ändern sich und die Erwartung ist legitim, dass wir die jeweils relevanten Texten durch kritische Editionen zur Verfügung stellen. Noch wichtiger ist aber, dass sich das Fach seit seiner Gründung sich seines Gegenstandes, des lateinischen Schrifttums des Mittelalters, immer umfassender angenommen hat, dass es gelernt hat, darin die mittelalterliche Geisteswelt in ihrer Komplexität wahrzunehmen. Philologie ist demnach eine Textwissenschaft, aber darüber hinaus auch eine umfassende Wissenschaft von der Kultur einer Zeit. Darin hat unser Fach im 20. Jahrhundert den Schritt vollzogen, den die Klassische Philologie im 19. Jahrhundert getan hatte.
Somit haben sich beide Philologien einander genähert: Sie teilen sich viele Methoden und Zugänge, und vor allem die Sprache Latein, die nur unter Verlusten auf einen kleinen Teil ihrer Geschichte reduziert werden könnte. In Zürich standen sich beide Seminare seit jeher nahe. Ab dem nächsten Jahr wird diese lange Verbundenheit in eine Vereinigung der Seminare münden. Sie bedeutet allerdings nicht, dass beide Fächer ihre Eigenart, ihre Ansprüche und ihre Verbundenheit mit Nachbarfächern in der Altertumswissenschaft und in der Mediävistik aufgäben. Das neue Seminar wird stark sein, weil wir unsere Stärken und unsere Kompetenzen zusammenbringen. So werden wir in Zürich die Möglichkeit bieten können, die Literatur in griechischer und in lateinischer Sprache in ihrer Vielfalt und in ihrem Reichtum über zwei Jahrtausende kennen zu lernen. Denn diese diachronische Perspektive kann nur dann bereichernd und sinnvoll sein, wenn die Geisteswelt jeder Epoche genau wahrgenommen, wenn die Texte in ihrer jeweiligen Eigenart ernst genommen und hermeneutisch erschlossen werden. Denn schließlich ist die Literaturgeschichte ja nicht lediglich die Geschichte der Echos aus einer großen Zeit. Sie ist vielmehr die Geschichte eines langen Dialogs, an dem sich viele Stimmen beteiligen, in dem es sowohl Zustimmung als auch Widerspruch gibt, Kontinuitäten wie Brüche und Neuansätze. Zwei Geschwister, die getrennt aufgewachsen sind, ziehen in dasselbe Haus ein. Wir erhoffen uns alle viel davon.
Aus dem Vortrag zur Geschichte des Mittellateins in Zürich anläßlich des Orelli-Tages 2013 von Carmen Cardelle de Hartmann.