Navigation auf uzh.ch
Anfänglich war die Sprache der Christen allgemein, auch im Westen, das Griechische. Das sich später herausbildende christliche Latein ist von dieser Sprache denn auch zutiefst geprägt. Gegen Ende des 2. und im Laufe des 3. Jahrhunderts setzte sich in den Gemeinden der westlichen Reichshälfte allmählich das Lateinische durch. Doch die Herausbildung einer christlichen Sprache innerhalb des Lateinischen mußte erst einmal erarbeitet werden. Dieser Vorgang verlief zunächst in Bahnen, die der tradierten Literatursprache fern waren: Die christlichen Gemeinden setzten sich aus Angehörigen sozial eher tiefer stehender Schichten zusammen; viele stammten aus den östlichen Reichsgebieten. Die gesprochene Sprache übte ihren Einfluß aus, auf Formenstrenge wurde wenig Rücksicht genommen. Auch zielte ja die christliche Botschaft auf eine radikale Erneuerung des menschlichen Lebens, und dieses Gefühl der Neuartigkeit bildete sich auch in der Behandlung der Sprache ab. Es hat die Annahme gegeben, unter den frühen Christen habe eine eigentliche Sonder- oder Gruppensprache im Sinne eines Soziolektes bestanden; dies dürfte indessen so nicht zutreffen. Was das Vokabular von Kultus, Kirchenverfassung und Lehre angeht, zeichnet sich als allgemeine Regel folgendes ab: Für die Benennungen der konkreten Institutionen wurde der griechische Ausdruck beibehalten; dagegen wurden für die Begriffe des Glaubens lateinische Wörter genutzt, die jedoch dadurch mit neuen Sinngebungen aufgeladen wurden. Beispiele aus dem erstgenannten Bereich sind clerus, episcopus, martyr, ecclesia, baptisma, catechesis, schisma, solche aus dem zweiten: redemptor, salus, saeculum, fides, praedicare, sacramentum. Auch legte man in den Anfängen großen Wert darauf, sich von der paganen Kult-Terminologie fernzuhalten. So verwendete man nicht ara, sondern altare, nicht prodigia, sondern magnalia ('wunderbare Taten').
Was die überlieferten Texte betrifft, stehen am Anfang die Übersetzungen der griechischen Bibel, die vom 2. Jahrhundert an in den verschiedenen Reichsgebieten des Westens von uns unbekannten Übersetzern unternommen wurden. Zunächst tritt hier besonders Nordafrika hervor. Man faßt diese aus der Zeit vor Hieronymus stammenden Texte unter dem Namen Vetus Latina (früher Itala) zusammen. Die einzelnen biblischen Schriften, ja sogar die einzelnen Textstellen haben ganz unterschiedliche Überlieferungsgrundlagen. Zur Rekonstruktion sind unzählige Handschriften und Fragmente von solchen heranzuziehen, ferner die große Masse der Zitate einzelner Stellen bei den Kirchenschriftstellern. Die frühen Übersetzer hielten sich sehr eng an den griechischen Text der neutestamentlichen Schriften und des griechischen Alten Testaments, der Septuaginta (LXX). Viele griechische Wörter nahm man einfach unübersetzt in den eigenen Text auf. Auch in syntaktischen Dingen lehnte man sich eng an das Bibelgriechische an, welches seinerseits manche Semitismen (Hebraismen bzw. Aramaismen) weitergab. Daß keinerlei Bedenken stilistischer Art bestanden, äußert sich auch in der unbekümmerten Schaffung innerlateinischer Wortneubildungen. Dadurch, daß solche Sprachzüge in den Texten vorkamen, die den Christen so viel bedeuteten, verloren sie in deren Augen zum Teil den Charakter des Volksläufig-Ungepflegten: sie wurden gleichsam geadelt.
Erst verhältnismäßig spät wurde in der Liturgie vom Griechischen auf das Lateinische umgestellt; im Sakralbereich zeigt sich sprachlich allgemein ein besonderes Beharrungsvermögen. Doch nach der Konstantinischen Wende, im 4. Jahrhundert, ging man daran, die einzelnen Stücke der Liturgie in lateinischer Sprache zu gestalten. Während die Bibeltexte möglichst wörtlich übertragen worden waren, verfuhr man hier anders: Man schuf, natürlich in Anlehnung an die griechischen Vorbilder, aus genuin lateinischem Sprachgut neue Formulare. Inzwischen war die Christensprache dem umgangssprachlichen Felde bereits etwas entwachsen. Der Sinn für die Geformtheit jeder Rede, und gerade religiöser Rede, war in die christlichen Kreise hineingetragen worden. Dabei griff man auf ältere römische Traditionen zurück. Es ergab sich eine gehobene, der Spontaneität mündlicher Ausdrucksweise entzogene Stilsprache. Besonders gilt dies für den Canon missae, den Kern der Meßfeier. Die begleitenden Gebete verblieben zunächst mehr in der Sphäre der hergebrachten liturgischen Improvisation.
Verhältnismäßig früh schon gibt es christliche Texte, die von Vertretern der hergebrachten literarischen Traditionen verfaßt worden sind, so die Werke von Arnobius, von Minucius Felix, die frühen Schriften Augustins, doch auch die des Lactantius. Wesentlicher ist jedoch, daß sich in den christlichen Kreisen allmählich eine spezifische Latinität herausbildete, dies in Ablösung von den griechischen Bibel- und Liturgietexten einerseits und in Abgrenzung gegenüber der Umgangssprache ihrer Angehörigen andererseits. Bahnbrechend waren in dieser Beziehung zwei afrikanische Kirchenschriftsteller: Tertullian (gestorben nach 220) war gerade auch in sprachlichen Dingen eine kraftvolle und schöpferische Persönlichkeit. Doch nicht alle von ihm geprägten Ausdrucksweisen konnten sich durchsetzen; seine Schriften, teilweise von der Orthodoxie abweichend, wurden später nur wenig gelesen. Stärker geprägt von den Bedürfnissen pastoraler Praxis ist die Sprache des Bischofs Cyprian (gestorben 258). Er zögert nicht, die in christlichen Kreisen üblichen Termini sowie auch gewisse volksläufige Sprachzüge in seine Texte aufzunehmen, denen umgekehrt gerade auch dadurch große Wirksamkeit beschieden war.
Ohne daß man von einer ausgeprägten christlichen Sonder- und Gruppensprache ausgehen muß, läßt sich von einer bestimmten inneren Identität des christlichen Lateins sprechen, das allerdings starke Unterschiede zwischen den verschiedenen Textsorten und den mannigfachen Ausdrucksbedürfnissen erkennen läßt. Gerade etwa der wortmächtige und sprachbewußte Augustinus (gestorben 430) verfügt über ganz unterschiedliche sprachliche Register. Innerhalb der Christensprache läßt sich von einer Kirchensprache im engeren Sinne sprechen. Im Gefolge der Konstantinischen Wende und durch die Ausdünnung der paganen Bildungstraditionen im Übergang zum Mittelalter wurde der Anteil der christlichen Sprache am Geistesleben insgesamt immer bedeutender. In ihrem Innern fand nun eine Bereinigung statt im Sinne der Anerkennung oder Abstoßung von Ausdrucksweisen. Den germanischen Stämmen der Völkerwanderungszeit gegenüber beherrschte die christlich-kirchliche Sprache das Erscheinungsbild des Lateinischen schlechthin; sie ist für das ganze Mittelalter grundlegend geworden.
Den
paganen Römern waren die christlichen Texte ihrer Form nach in manchem
so ungewohnt wie ihrem Inhalt nach. Diese Unterschiedenheit der
Sprachhaltung hat einen passivischen und einen aktivischen Aspekt. Dem
ersten gehört zu, daß man ungehemmt alle dienlich scheinenden
Wortneubildungen zuließ. Der zweite besteht darin, daß man mit
bekenntnishafter Deutlichkeit die eigene Sprache der Beurteilung durch
den literarischen Geschmack der Gebildeten entzog. Die Unbekümmertheit
um die hochsprachlichen Normen beschränkt sich nicht auf die
Begrifflichkeit des Glaubens und des kirchlichen Lebens, sondern
betrifft auch neutrale Bereiche, so Eigenheiten der Morphologie (etwa
die Form floriet statt florebit). Allerdings mögen manche dieser Sprachzüge lediglich Vulgarismen sein, welche durch ihr Vorkommen in der Vetus Latina gleichsam
getauft und geadelt worden waren.- Die hier entwickelten Einstellungen
gegenüber klassischen Normen sind für den mittelalterlichen Umgang mit
der Sprache in manchen Bereichen prägend geworden.