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Daß die Bibelübersetzungen, die in den einzelnen Ortskirchen verwendet wurden, unter sich so große Unterschiede zeigten, wurde als Mangel empfunden für die pastorale Arbeit wie auch für die Auseinandersetzung mit Andersdenkenden. Dem Wunsch nach der Schaffung klarer Verhältnisse kam es entgegen, daß Hieronymus (gestorben 419/420) es unternahm, nach und nach die einzelnen Teile der Bibel einer gründlichen Bearbeitung zu unterziehen. Er begann mit einer bloßen Überarbeitung der umlaufenden Fassungen nach dem Griechischen. Dies gilt für die Evangelien, für die weiteren neutestamentlichen Schriften (welche in seinem Schülerkreis bearbeitet wurden) und gilt für eine bestimmte Fassung des Psalters (Psalterium iuxta LXX, auch Psalterium Gallicanum). Nach entsprechenden Ansätzen bei den übrigen Schriften des Alten Testaments ging er daran, diejenigen des engeren hebräischen Kanons nach dem Urtext (nach der Hebraica veritas) neu zu übersetzen, einschließlich des Psalters (Psalterium iuxta Hebraeos). Die zusätzlichen Texte des weiteren Kanons wurden teils von ihm (Judith, Tobias) übersetzt, teils wurden von ihnen auch späterhin die Vetus Latina-Fassungen verwendet. Das Ergebnis ist ein Corpus, das sich im Laufe des Frühmittelalters allmählich allgemeine Geltung verschafft hat; in der Neuzeit wird es pseudolateinisch mit dem Substantiv Vulgata bezeichnet. Die Geltung und die Gestalt der Hieronymusbibel war im Mittelalter nicht so einheitlich, wie man sich dies aus der Sicht der nachtridentinischen Verhältnisse zunächst vorstellen könnte. Erwähnt seien die Revisionsarbeiten seitens Alcuins im 8. Jahrhundert. (Auf ihn geht die Entscheidung für das Psalterium iuxta LXX, zuungunsten der Übersetzung nach dem Urtext, zurück.) In Form von Beimischungen in Vulgatahandschriften, vor allem aber in der Liturgie leben Überreste der vorhieronymianischen Bibelfassungen vielgestaltig weiter. Hervorgehoben sei hier das liturgisch gebrauchte Psalterium Romanum.
In der Sprache der lateinischen Bibel liegt der Lebensnerv einer verbindlich gewordenen christlichen Prosasprache des ausgehenden Altertums. Zwar blieben gewisse sprachliche Eigentümlichkeiten der Vetus Latina, die man aus Pietätsgründen noch eben übernommen hatte, ausgegrenzt. Doch zahlreiche Eigentümlichkeiten der Bibel wurden zur consuetudo christiana oder c. scripturarum. So, wie der Schriftsteller sein Schreibrohr in die Tinte tauchte, war seine Schreibweise in diese "getaufte Latinität" eingetaucht, die ihm am nachdrücklichsten aus der Bibel entgegentrat, und die ihm seit frühester Jugend vertraut war.
Die lateinische Sprache hat dadurch gleichsam eine Verjüngungskur erfahren, dies einerseits durch hart umgrenzte Sprachtatsachen (Lehnwörter, innerlateinische Neubildungen, markante Bedeutungsneuerungen), doch auch durch Anreicherung mancher Wörter mit neuer Sinnfülle durch fortgesetzte Anwendung auf einen Begriff, eine Person der Heilsgeschichte oder des Glaubenslebens. Doch selbst Alltagsbegriffe (etwa petra, cedrus, fermentum, zizania) konnten, zufolge ihrer Anwendung in ganz bestimmten Zusammenhängen, mit mitschwingenden Sekundärbedeutungen belegt sein. Die Verbindung mit diesen Sprachzügen stellte sich beim Schreiben im Mittelalter von selber ein. Doch mancher Schriftsteller legt sogar die ausgeprägte Haltung an den Tag, seinen Text nach biblischen Vorstellungen und Redewendungen zu formen, sie als Stilmuster und zu subtilsten Anspielungen zu nutzen. Dergleichen konnte gar als mimetisches Mittel dazu dienen, den besprochenen Sachverhalt einer bestimmten biblischen Konfiguration zuzuordnen. Da der Leserkreis mittelalterlicher Texte seinerseits mit der biblischen Sprache engstens vertraut war, konnte man diese an Obertönen so reiche Sprache in sparsamer Dosierung wirken lassen und gerade diese Sparsamkeit zur besonderen Kunst werden lassen.
Doch auch ohne bestimmte Wirkungsabsichten damit zu verbinden, lag es nahe, sich die Ausdrucksweisen der lateinischen Bibel zunutze zu machen, etwa in der Beschreibung von Alltagssituationen der Lebenswelt, in welcher der mittelalterliche Mensch stand. Diese allgemeine Nutzung der biblischen Texte wurde dadurch erleichtert, daß sie einen offenen, übersichtlichen Satzbau aufweisen, an den sich die eigene Sprachpraxis leicht anschließen ließ.
Die Auseinandersetzungen der Väterzeit um die rechte Weise des Übersetzens und die Bewertung unterschiedlicher lateinischer Sprachformen ergab ein reiches Dossier von Äußerungen zur Sprache, welches für die mittelalterlichen Menschen lehrreich war: Hier war das Prinzip fortdauernder Normenentfaltung in der Sprache gewissermaßen verbrieft. Ja vielleicht lag hier die Hauptquelle, aus welcher das lateinische Mittelalter ein lebendiges Bewußtsein von der Geschichtlichkeit der Sprache neu gewinnen konnte - und welcher es vielleicht für sich selber sogar dies entnahm: daß man im Dienste höherer Notwendigkeiten die Entwicklung der Sprache aktiv mitgestalten dürfe. Ferner konnte man sich anhand davon jederzeit neu Rechenschaft geben über das Verhältnis verschiedener Buchsprachen zueinander, dies in einer Zeit, in welcher die lebendige Auseinandersetzung mit dem Griechischen kaum noch möglich oder üblich war, vom Hebräischen zu schweigen.
Die Frühzeit der christlichen Liturgie ist gekennzeichnet durch Improvisation auf der Grundlage bestimmter Modelle. Die in den einzelnen Gottesdiensten des Kirchenjahres gesprochenen Texte konnten sich von Ort zu Ort unterscheiden. Zunächst gab es im Abendland unterschiedliche Liturgiebereiche. Allerdings ging die Entwicklung auf eine Vereinheitlichung hin zugunsten der Liturgie Roms, dies vor allem in und seit der Karolingerzeit. Hand in Hand damit geht die Niederschrift der an einem bestimmten Ort in Gebrauch befindlichen Texte. Neben derjenigen Roms steht die mit ihr verwandte mailändische Liturgie. Von großem Reichtum und Schwung ist die gallikanische und die ihr nahestehende mozarabische Liturgie (in Frankreich bzw. in Spanien). Die erstere wurde im 8. Jahrhundert zugunsten der römischen aufgegeben und ist daher auch nur ganz rudimentär überliefert. Die zweitgenannte wurde im 11. Jahrhundert zum Absterben gebracht. An der Festigung und Ausgestaltung der römischen Liturgie hatten im 8. bis 10. Jahrhundert die fränkisch-deutschen Herrscher bzw. ihre geistlichen Helfer beträchtlichen Anteil. Die Gebetstexte der römischen Liturgie zeichnen sich durch eine strenge, getragene Sprache überpersönlichen Charakters aus. Dazu treten die liturgischen Gesänge mit biblischen oder bibelnahen Texten. Die meisten derjenigen, die sich im Mittelalter des Lateinischen bedienten, waren seit ihrer Jugend täglich in Berührung mit der Liturgie: Wirkungen auf die Form ihrer Texte konnten nicht ausbleiben.
Belebt wurden die Gottesdienste durch Elemente der Dichtung: so durch Hymnen im Offizium, dem Tagzeitengottesdienst der Mönchs- und Klerikergemeinschaften. Im Gegensatz zur psalmodischen Hymnik der älteren Zeit wurde im Abendland der Hymnus bald der Formung durch die hergebrachten metrischen Prinzipien - oder durch eine an deren Stelle getretene Regelung von Silbenzahl und Wortakzent (rhythmische Dichtung) - unterworfen. - Im Mittelalter gestaltete man die Messe besonders an Feiertagen manchenorts durch einen festlichen Gesang aus (Sequenz, Prosa), worin zunächst die freiere Form psalmodierender Poesie wieder auflebte, bis sich auch dort strengere Regelungen durchsetzten. - Vielfach versuchte man, innerhalb der von Rom übernommenen Liturgie einzelne Stücke durch die Einschaltung einstimmender, erläuternder oder ausschmückender Gesänge sich näherzubringen, durch sogenannte Tropen (Einzahl: Tropus). - In der zweiten Hälfte des Mittelalters gestaltete man die Offiziumsliturgie bestimmter Heiligenfeste dichterisch-musikalisch durch: dies in sogenannten versifizierten Offizien. - Diese einzelnen Genera liturgischer Dichtung, welche einen unerschöpflichen Reichtum darstellen, bildeten ein Gegengewicht gegen die Verfestigung und Vereinheitlichung der Liturgie. Manche hier erprobten Dichtformen wurden dann auch in weltlicher lyrischer Poesie angewandt.
Doch
bereits in der Spätantike, als die anfänglichen Berührungsängste
gegenüber profaner Bildung sich allmählich verflüchtigten, wurden die
Formen und Ausdrucksmittel der paganen Kunstdichtung, der Epik wie auch
der Lyrik, dem Ausdruck christlichen Gedankengutes dienstbar gemacht.
Christliche Dichter füllten die bereitstehenden Gefäße mit neuem
Inhalt, und der Umgang damit war für die Folgezeit eine
Selbstverständlichkeit. In den verschiedenen Gattungen - Bibel- und
hagiographischer Epik, Hymnendichtung, apologetischer Dichtung,
Epigrammatik - wurden in der christlichen Spätantike - im Großen wie
auch in Einzelheiten des Ausdrucks - Modelle bereitgestellt, auf welche
man im Mittelalter immer wieder zurückgegriffen hat. Je und je wurden
dann auch (wieder) weltliche Dichtungen geschaffen, auch in Anlehnung
an pagane Dichter. Doch daß man es sich fast überall zur Gewohnheit
werden ließ, sich dichterisch zu äußern, hängt wohl auch damit
zusammen, daß die Ausübung dieser Kunst nicht nur den Heiden
vorbehalten geblieben war, und daß der Verschmelzungsprozeß zwischen
griechisch-römischer Kultur und Christentum bereits in vollem Gange war.