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In vielen Abstufungen macht sich im mittelalterlichen Latein eine auf das Altertum zurückgehende Form der Latinität bemerkbar, welche der damaligen Volkssprache entspricht und, hindurchgegangen durch zahllose Wandlungen, in den romanischen Sprachen weiterlebt. Man spricht von Vulgärlatein und belegt mit diesem (oft kritisierten) Kunstwort einen Begriff ohne harte Umrisse, ein bloßes Gewölk von Erscheinungen. Man meint damit die den schriftsprachlichen Normen sich entziehende ungepflegte Varietät der antiken Umgangssprache, welche insgesamt durch Besonderheiten im syntaktischen, stilistischen und pragmatischen Bereich gekennzeichnet ist. Dem Vulgärlatein werden insbesondere gewisse Eigenheiten des Lautsystems, der Morphologie und der Wortverwendung zugerechnet. Vulgärlatein ist Sprache im unmittelbaren mündlichen Vollzug, ist als solche also niemals rein verschriftet worden. Es läßt sich dabei lebhafter Wandel im Laufe der Zeit vermuten. Demgegenüber gibt es den Begriff eines mehr oder weniger feststehenden antiken Vulgärlateins, dessen Züge aus den überlieferten romanischen Sprachen durch Rückschlüsse gewonnen worden sind, und das man besser als Urromanisch von dem in zahllosen Einzelzügen belegten historischen Vulgärlatein trennt.
Es sind keine Texte überliefert, die vollumfänglich als vulgärlateinisch bezeichnet werden könnten, sondern nur solche, in denen entsprechende Einzelzüge in mehr oder weniger dichter Folge eingeschlossen sind. Noch in den primitivsten Kritzeleien machen sich normierende Einflüsse geltend. Die Lautform gesprochener Rede wiederzugeben, kam niemandem in den Sinn; diese wurde gefiltert durch ein wenn auch noch so rudimentäres Sprachwissen des Schreibers - das oft auch erst recht in die Irre führen konnte. Das vorliegende vulgärlateinische Sprachmaterial ist allenthalben durchsetzt von Zügen der Standardsprache. Nach Art eines hermeneutischen Zirkels muß auf ein bestimmtes Erfahrungswissen abgestellt werden bei der Bestimmung derjenigen Sprachzüge eines Textes, welche dem Vulgärlatein angehören.
Etliche der für das antike Vulgärlatein hochwichtigen Quellen sind für die Beurteilung des mittelalterlichen Lateins von minderer Bedeutung: Manches darin Enthaltene war seitdem untergegangen, manches wurde innerhalb einer langen Kette von späteren Texten an das Mittelalter herangetragen. Anderes wiederum ist erst vom ausgebildeten Romanisch her ins mittelalterliche Latein eingegangen und bildet als Rückentlehnung eine Kategorie eigenen Rechts. Recht stark in Betracht fällt die praktisch-technische Literatur der Kaiserzeit und der Übergangszeit: Fachtexte aus der Landwirtschaft, der Human- und Veterinärmedizin, der Diätetik und der Kochkunst, der Botanik und Pharmazeutik sowie des Kunsthandwerks. Und zwar ist es dabei vielfach einerlei, ob man im Mittelalter den einen oder andern Text als solchen gekannt habe. Geht es doch einesteils um ein mit einer gewissen Kontinuität gebrauchtes Fachvokabular, im weiteren um bestimmte Konstruktionen, welche Nachfolge gefunden haben. Anschließen lassen sich Texte, welche dem Volksaberglauben angehören, sodann die älteren Rechtsaufzeichnungen der Germanenstämme, frühmittelalterliche Urkunden, Formularsammlungen und Briefe, doch auch die Geschichtswerke. In der Zeit des Übergangs von der Spätantike zum Frühmittelalter haben nahezu alle Texte in einem gewissen Grad vulgärlateinisches Gepräge, mit Ausnahme derjenigen Spaniens und der Britischen Inseln. Wertvoll sind für uns natürlich auch die von Theoretikern bereitgestellten Materialien: Grammatikerschriften und Glossensammlungen.
An Quellen zum Vulgärlatein aus dem frühen Christentum lassen sich nennen: die Vetus Latina, die in manchen Einzelzügen in der Vulgata weiterlebt, dann etwa der Bericht der Aetheria von ihrer Pilgerfahrt ins Heilige Land, ferner verschiedene Mönchsregeln. Namentlich in der Benediktregel wurden zahlreiche von ihrem Entstehungsmilieu herrührende Vulgarismen nach wie vor recht kräftig an das Mittelalter herangetragen.
Im Grundsätzlichen ist nochmals daran zu erinnern, daß die frühen Christengemeinden nicht nur in hundert Einzelfällen volksläufiges Sprachgut einströmen ließen, sondern zunächst den regelnden, mäßigenden Wirkungen der literarischen Tradition allgemein fernstanden. Zudem bestand seitens der Prediger bzw. Schriftsteller der Wille, dem einfachen Volke verständlich zu sein. So verteidigt Augustinus seinen Gebrauch von ossum statt os 'Knochen', um den Gedanken an os 'Mund' auszuschließen. Nicht immer geht es bei der Christensprache um zuchtlosen Umgang mit allerhand Neuerungen, sondern mitunter tauchen hier Besonderheiten wieder auf, welche offenbar seit dem Altlatein ein schriftfernes Dasein in der Volkssprache gefristet hatten. Manche von ihnen wurden nunmehr auch in die werdende christliche Literatursprache gepflegteren Stils aufgenommen, welche im Ausgang der Antike ziemlich allgemein verbindlich wurde.
Die
romanischen Sprachen zeigen bereits bei ihrem ersten Hervortreten in
Schriftzeugnissen so große Unterschiede untereinander, daß gegenüber
dem belegten älteren Vulgärlatein bzw. einem hypothetischen Urromanisch
ein langer Prozeß der Differenzierung eingetreten sein muß. Nun gibt es
aus der Kaiserzeit und der Übergangszeit aus den einzelnen Gebieten
eine Masse dort niedergeschriebener Texte, vor allem Inschriften,
welche Besonderheiten gegenüber dem normalen Schriftlatein zeigen und
unter sich ganz uneinheitlich sind. Nur lassen sich diese Unterschiede
nicht unbesehen verrechnen mit denjenigen unter den später dort
geltenden Volkssprachen. Die weitaus meisten Beurteiler nehmen heute
an, daß sich zunächst einmal im ganzen Reichsgebiet eine mehr oder
weniger einheitliche Sprechsprache ausgebreitet habe. Offen ist die
Frage, ob diese weitgehende Gleichförmigkeit in den einzelnen Provinzen
von allem Anfang an bestand oder jeweils erst nach einer Zeit des
Übergangs erreicht worden war. Was den Zeitpunkt des Auseinandertretens
der einzelnen Idiome angeht, so gehen heute die meisten Forscher von
einer Differenzierung im Zeitraum zwischen dem 5. und dem 7.
Jahrhundert aus.