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Wer 'Latein', über allen noch so grundlegenden Gestaltwandel hinweg, als Oberbegriff für alles daraus Hervorgegangene nimmt, mag behaupten, noch heute sprächen die romanischen Völker Latein. Aber das ist nichts weiter als ein schöner Gedanke. Sinnvoll kann in der nachantiken Zeit nur dort nach mündlichem Gebrauch des Lateinischen gefragt werden, wo bereits eine begrifflich erfaßte Volkssprache sich davon abhob - was die Galloromania betrifft: seit der Karolingerzeit. Dem Latein war nun die Rolle der Schriftsprache zugewiesen, doch empfahl sie sich in manchen Lebensbereichen zum mündlichen Gebrauch, so etwa unter Gebildeten unterschiedlicher Herkunft, ferner allgemein im theologischen Lehrgespräch sowie in der kirchlichen und klösterlichen Praxis.
In und seit der Karolingerzeit wurde in diesen Kreisen dauernd ein Umgangs- oder Verkehrslatein gepflegt, doch entzieht sich dieses weitgehend unserer Beurteilung, weil wir davon immer nur mittelbare und punktuelle Kenntnis erhalten. Gewiß stellten sich in manchen Dingen Kontinuitäten ein, doch läßt sich kaum von der Modellvorstellung einer - etwa gar seit der Antike - überzeitlich wirksamen Umgangssprache ausgehen. Zu achten wäre vielmehr auf gewisse sprachpsychologische Konstanten und auf Wechselwirkungen der jeweiligen Volkssprache, dies besonders dort, wo sich eine neue lateinische Mündlichkeit von der hergebrachten romanischen Mündlichkeit nur unscharf absetzte. Ganz wesentlich war wohl das jeweils geltende Schriftlatein. Dieses wurde von den karolingischen Herrschern und ihren Beratern planmäßig gepflegt, die Sprechsprache als solche nicht: sie ergab sich einfach aus ihr.
Grundsätzlich ist zu unterscheiden zwischen spontaner und geformter Mündlichkeit, zwischen textverhaftetem und frei schwebendem Gebrauch des Lateinischen. In Liturgie und Predigt, bei Lesungen im klösterlichen Kapitelssaal oder im Refektorium, endlich in der Schule: in all diesen Bereichen wurde regelmäßig und planmäßig Mündlichkeit des Lateinischen herbeigeführt in inhaltlich vertrauten Bereichen, so daß es den gebildeten Teilnehmern leicht fiel, das solchermaßen verlebendigte Wort selber fortzuführen. Da und dort wird in bezug auf einzelne Lehrer rühmend hervorgehoben, daß ihre Schüler nur Latein hätten sprechen dürfen. Wie immer man derartige Zeugnisse beurteile: die - mehr vorgeformte oder mehr spontane - Mündlichkeit darf für das Lateinische im Mittelalter insgesamt für wesentlich gelten.
Im Hoch- und Spätmittelalter gewann die Mündlichkeit des Lateinischen einen neuen Stellenwert dadurch, daß vermehrt der Zwang zu überregionaler Verständigung sich geltend machte, sowie auch dadurch, daß dem gelehrten Diskurs eine neue Form gegeben wurde. Bei dem Unterrichtsbetrieb neuen Stils machte es nicht erst die Materie, sondern nur schon die Herkunft der Beteiligten aus verschiedenen Sprachgemeinschaften erforderlich, daß die Vorträge und Gespräche alle lateinisch geführt wurden: in einem Latein, das von dieser neu akzentuierten Zweckbestimmung her eine neue Formung erfuhr. Vielleicht hängt die Ausbreitung gesprochenen Lateins zusammen mit dem Obsiegen der Dialektik-Anhänger über die Verfechter einer klassischen Ausrichtung etwa in der Art des Johannes von Salisbury (gestorben 1180), wonach die Betrachtung und Nachahmung literarischer Texte vor der Geläufigkeit mündlicher Sprachhandhabung den Vorrang besaß. Dieses mündliche Latein war nun freilich nicht immer sehr korrekt, und im Spätmittelalter hat man es in Satiren und durch Parodien gegeißelt.
Die
lateinische Sprache erschien nunmehr einem großen Teil derjenigen, die
mit ihr umgingen, nicht mehr als etwas, was über ihren Häuptern hing,
und wonach sie sich auszustrecken hatten, wenn sie es ergreifen
wollten, sondern als etwas, was vor ihren Füßen lag und sich von ihnen
behandeln lassen mußte, wie es ihnen beliebte.